Der Welt verloren gehen

Von Thomas Bez am 23.08.2019

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„Ich lag auf dem Sofa“, sagte Kabert, „und hörte das Es-Dur-Cellokonzert von Shostakowitsch, in dessen zweitem Satz unendliche Trauer über mich kam. Ich stand auf und blickte in den Park, ich sah die nackten kahlen Bäume, deren filigrane Verästelungen sich gegen den fahlen Abendhimmel abhoben. Es war, als ich an meinem Holtfreter schrieb: die Geschichte des Mannes, der eine öde Gegenwart von sich wirft, um in eine Zukunft zu gehen, in der er vielleicht selbst noch was bestimmen kann. Ich blickte in den Park und dachte ans Älterwerden, und da wurde mir seltsam zumute. Ich hatte plötzlich eine große Angst davor, daß auf einmal alles vorbei sein würde. Daß alles ohne mich weitergehen werde. Daß ich diesem Leben abhanden kam, daß ich entbehrlich war. Ich fühlte fast körperlich, wie mir das Leben entglitt, wo es doch einmal eine Zeit gegeben hatte, wo so etwas noch gar keine Gültigkeit hatte.“

(aus Jammerbugten oder Der Ernst des Lebens 1998)

Es waren nur wenige Leute da zur Beisetzung der Bechtolds, denn sie waren im Grunde die letzten aus dem Kreis der Freunde und Bekannten, die alle schon unter der Erde waren. Der Sohn Stefan war aus der Antarktis, wo er die Polkappe beim Erschlaffen beobachtete, herbeigeeilt, um die Eltern unter die Erde zu bringen und den Haushalt aufzulösen. Was hatte die Bechtolds veranlasst, der Welt abhanden zu kommen? Es war gewiß die Angst vor einem Alter in schlimmer Bedürftigkeit, die Furcht vor dem Siechtum, dem Leben als Pflegefall in einem Heim, die Furcht vor Alzheimer und Demenz, doch der tiefere Grund war wohl der, daß sich Kuhschnappel für sie erledigt hatte. Es war für sie die Welt gewesen.

(aus Kuhschnappel oder Die Erschlaffung der Welt 2009)